Gesang
der Dünen
Das
Werk der französischen Künstlerin Océane Moussé wirkt auf den
ersten Blick filigran, fein und präzise. Auf weißen,
unterschiedlich großen Papierbögen zeichnet sie akribisch kleine
Tuschefäden und Schraffuren, die sich zu räumlichen Strukturen,
Körpern, Architekturen und Landschaften mit Hügeln und Senken
zusammenfügen. Schließlich wird daraus ein Bild oder eine
Bildserie. Auffällig sind die entleerten Räume. Als ob eine
Reduktion und Reinigung stattgefunden hätte, sind die Bildmotive auf
das Wesentliche begrenzt. Eine Horizontlinie verdickt sich im
Bildmittelgrund, der Himmel ist eine weiße, unbearbeitete Fläche.
Keine Wolke, keine Sonne, kein Vogel und kein Flugzeug sind zu sehen.
Der hügelige Raum darunter ist mit Rasen oder Wiese überzogen.
Aus
Erdspalten klettern Menschen mit Gepäck, Taschen und Rucksäcken:
Sie „sprießen“ regelrecht aus der Wiese und ziehen in einer
langen, unendlich scheinenden Karawane ins Nichts. „Les Migrants“
(2011) – so der Titel der Serie – sind auf dem Weg irgendwohin.
Menschenströme
sind auch auf einer anderen Bildserie zu sehen, die mit „Les
Touristes“ (2010-2011) betitelt ist. Sie erklimmen einen Hochstand,
wie es sie früher an der Berliner Mauer gab, und schauen – ins
Nichts. Die Künstlerin bietet uns Betrachtern einen in die Weite
schweifenden Blick, eine scheinbar unendliche Weite, aber nichts
Sichtbares, auf das es sich zu starren lohne. In unseren Fokus rücken
im Bild die Beobachter (Touristen) selbst, und wir wundern uns, woher
sie kommen und wohin sie gehen, sie verschwinden einfach wieder im
Boden.
Oder
der Freizeitmensch steht geduldig in einer langen Reihe an und wartet
darauf, einmal mit einem Kettenkarussell fahren zu können, um aus
demselben irgendwann wieder herausgeschleudert zu werden wie bei
„Saturne“ (2012).
Überhaupt
ist die 360°-Drehbewegung offensichtlich von zentraler Bedeutung. Es
gibt eine Bildserie, namens „1M2“ (2009), die aus einem
Triptychon besteht und dem Betrachter alsbald durch die drei
verschiedenen Aufhängungsmöglichkeiten verdeutlicht, dass sie eine
unendliche, kreisförmige Geschichte erzählt. Distanziert durch eine
angedeutete, halbhochgezogene Jalousie im Vordergrund, schauen wir
durch verschiedene Fenster in eine Landschaft mit unterschiedlich
hohen Kegelbergen, die erloschene Vulkane suggerieren. Menschen mit
Rasenmähern weißen die Zeichenspuren, sie radieren das Bild an
einigen Stellen quasi wieder aus. Die Vergänglichkeit der Szenerie
und der Augenblick des Konstrukts sind die bedeutsamen Verweise auf
zyklische Existenz per se und auf die Veränderlichkeit jedweden
Daseins und Zustands. Dieser Fokus liegt auch auf dem Bild „Dans le
regard d’acier, l’horizon“ (2011). Hier sind es eine Reihe von
Mähdreschern, die die Motivik vermeintlich negieren, auslöschen und
zurückführen in einen jungfräulichen Urzustand: das weiße,
unberührte Blatt Papier.
Eine
weitere Drehbewegung konstituiert sich in der Arbeit „ediejnesaH“
(2013), nur diesmal horizontal. Sie zeigt eine Wiesenfläche und am
unteren Bildrand Sitzbänke und eine Ansammlung von Bäumen – auf
dem Kopf. Hier geht es nicht um eine Adaptation von Baselitz-Bildern
oder die Irritation der Sehgewohnheit, sondern um den eingefrorenen
Zeitpunkt einer 360°-Bewegung. Der kindliche Begriff Purzelbaum für
eine Rolle vorwärts oder rückwärts beschreibt den Augenblick sehr
passend: „Sturz und Aufbäumen“. Das Bild zeigt also jenen Moment
während eines Purzelbaums, in dem die Welt kopfüber steht.
„Porteurs
de paysage, Mont Calvo“ (2011) ist eine der ungewöhnlichsten
Zeichnungen der Künstlerin. Eine Hügelkette wird von Menschen
getragen. Wie einzelne Atlasfiguren der Mythologie stemmen unzählige
Frauen und Männer die Landschaft in die Höhe. Welche Energieströme
diesen Hebekraftakt mit der Materie verbinden, zeigt sich nicht nur
in der Anschauung, sondern auch in der Vorstellung: Diese Landschaft
ist versetzbar, „rekomponierbar“, ihr taxonomischer Rang ist der
menschlichen Macht untergeordnet. Das Werk zeigt allegorisch unsere
Auffassung wie wir mit Natur, Landschaft und unserer Umwelt umgehen.
In dem wir alles nach unseren (unnatürlichen) Standards verändern,
folgen wir nach Moussé lediglich nachgeahmten Mustern. Die Personen
tun alle das gleiche, mit den gleichen Gesten und Utensilien. Sie
sind aber alle eigentlich Fremde, lediglich Besucher, weil die
Künstlerin sie in einem Stadium der Durchreise zeigt.
All
diese Zeichnungen und Zyklen der Künstlerin definieren eine
zeitliche und räumliche Entgrenzung und in gleicher Weise eine
Entschleunigung. Dadurch verlieren sie jedoch nichts an thematischer
Brisanz, denn nicht nur die Titel verraten es, sondern insbesondere
die Machart: Océane Moussé beschäftigt sich inhaltlich mit dem
Zeitphänomen von Wanderungen und zyklischen Systemen. Zwar tut sie
dies mit einer gehörigen Portion an darstellerischer Poesie, in uns
Betrachtern entsteht aber immer auch ein leichtes Unbehagen, denn wir
fragen uns, warum in einem derartig weiten Raum, die humane Spezies
sich so geballt an einem Ort aufhält. Wir fragen uns welcher Logik
die Menschen folgen, woher die Massen kommen und wohin sie
entschwinden. Es gibt keine Antwort darauf. Wir sind aber nur
scheinbar distanzierte Betrachter, die keine ausreichenden
Informationen von der Künstlerin erhalten, und merken bald, dass die
widerständige Oberfläche uns nur kurzfristig darin unterstützt,
nicht selbst in unsere Phantasien eintauchen zu müssen. Wir sind
aufgefordert, unser Handeln zu reflektieren: Wir sind Begleiter des
Systems und werden schließlich gewahr, dass nichts unschuldig,
unwissend oder fügsam ist.
„Sturz
und Aufbäumen“ steht also symptomatisch für das Werk von Océane
Moussé. Die Systemkritik ist in den Werken immanent spürbar und der
leichte Strich der Zeichnung ist in Wahrheit die Idee von
Flüchtigkeit – in mehrdeutigem Sinn.
Claus
Friede